Von Statuen, Gelegenheitskäufen und Gondeln

 

 

Ein viel zu langes Kapitel, in dem der Autor versucht, sich von den sogenannten »Tatsachen« unabhängig zu machen. - Anspruch auf Sonderbehandlung, oder wie man vollkommen mühelos in den Genuß einer siebzigprozentigen Ermäßigung auf den Italienischen Staatsbahnen gelangt. - Feldzug gegen die Spaghettiplage. - Ein Reiterstandbild für jeden Haushalt. - Haben Luigis Frau und seine Schwiegermutter recht, und wo zum Teufel ist das Hotel Excelsior? - Pappa kauft ein Zauberpulver und bekommt keinen Kuß. - Der Schiefe Turm von Pisa steht in Wahrheit kerzengerade. - Heiliger Krieg gegen die venezianischen Gondolieri. Niederlage im Trinkgelddschungel.

 

Wir sind in unsrem Reisebericht an einem kritischen W Kreuzweg angelangt und müssen Sie, geneigter Leser, mit bestimmten revolutionären Grundsätzen bekanntmachen, die uns bei der Niederschrift dieses Buches geleitet haben.

Warum sich das so verhält, wissen wir nicht: Aber es ist nun einmal in der gesamten Weltliteratur üblich, daß ein Autor bei der Abfassung eines Romans, einer Novelle, eines Theaterstücks und besonders eines Gedichts alles niederschreiben kann, was ihm gerade in den Sinn kommt. Nur bei Reiseberichten - und nur bei Reiseberichten - muß er sich an die Tatsachen halten. Der Autor des vorliegenden Reiseberichts berechnete, daß er, um dem eben formulierten Anspruch der Tatsachen gerecht zu werden, zehn bis fünfzehn der besten Jahre seines Lebens darauf verwenden müßte, sämtliche Quellen zu studieren, unter den jeweils geschilderten Völkerschaften zu leben, ihre Geschichte und ihre Statistiken zu durchforschen und dergleichen mehr. Aber das fällt ihm gar nicht ein. Dazu hat er weder die nötige Zeit noch das nötige Geld.

Außerdem ist er fest überzeugt, daß gerade der erste Eindruck, gleich nach Verlassen des Flugzeugs, des Schiffs oder der Eisenbahn, das einzig richtige Bild eines fremden Landes und eines fremden Volkes vermittelt. Wer den Fehler begeht, sich längere Zeit in einem Land aufzuhalten, beginnt allmählich zu verstehen, was man ihm erzählt, wird durch allerlei Sehenswürdigkeiten abgelenkt, entdeckt vorzügliche Restaurants, lernt nette Leute kennen und verliert, kurzum, jene Fähigkeit zur vorurteilslosen Betrachtung, die er bei seiner Ankunft in so durchdringendem Maße besaß.

Keine solche Gefahr hat uns auf unsrer Reise bedroht, denn wir machten es uns zum Prinzip, nirgends länger als ein paar Tage zu bleiben. Daher die strotzende Kraft und Unmittelbarkeit dieses Buchs, seine enzyklopädische Befassung mit scheinbaren Nebensächlichkeiten, seine einwandfreie von Fakten und Ziffern garantiert unabhängige Zuverlässigkeit. Literarisch gehört dieses Buch in die von den Angelsachsen mit Recht geschätzte Kategorie der sogenannten »science fiction«.

Vielen Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit. Wir sind mittlerweile in Rom angekommen.

Die leider allzu kurze Begegnung mit unsrer großen Liebe Italien hatte ihren Ursprung noch in Israel, als unser Reisebüro uns mitteilte, daß wir für alle Länder der Welt die nötigen Visa bekommen hätten, zur Erlangung des italienischen jedoch persönlich auf dem Konsulat erscheinen müßten. Warum? Weil der Antragsteller - mit anderen Worten ich - als bekannter Schriftsteller und Journalist Anspruch auf bevorzugte Sonderbehandlung hätte.

Auch gut.

Ich ging also aufs italienische Konsulat und reihte mich in die dichte Schlange der im Vorraum Wartenden ein.

Kaum eine Stunde später stand ich vor einem nervösen, sichtlich überlasteten Beamten, der nur italienisch sprach und mit einer himmelwärts gerichteten Handbewegung das Wort »giornalisti« hervorstieß. Damit wollte er mir zu verstehen geben, daß ich einen höher gelegenen Amtsraum aufsuchen mußte, weil ich Anspruch auf bevorzugte Sonderbehandlung hätte.

Auch gut.

Ich erklomm das oberste Stockwerk und machte dort jene zweite Sekretärin ausfindig, die man mir in den tiefer gelegenen Stockwerken als die für meinen Fall zuständige angegeben hatte. Sie teilte mir in italienischer Sprache mit, daß die italienische Regierung für bekannte Künstler und Wissenschaftler, die Italien besuchen wollen, einen besonderen Ausweis bereithielte, der dem Inhaber eine siebzigprozentige Fahrpreisermäßigung auf den italienischen Staatsbahnen zusichere und von ihm persönlich in Empfang genommen werden müsse, weshalb unser Reisebüro... aber das wußten wir ja schon. Meine Ehefrau - die beste Ehefrau von allen, die mich immer und überall begleitet - konnte ihre Freude über diese Gunst des Schicksals nicht verbergen und beschloß an Ort und Stelle, für die solcherart eingesparte Geldsumme auf dem Florentiner Strohmarkt drei weitere Handtaschen zu kaufen. Ich meinerseits blätterte den Gegenwert von sechshundert Lire vor die Beamtin hin und wurde gebeten, mich am nächsten Tag zur Erledigung der restlichen Formalitäten nochmals einzufinden.

Auch gut.

Als wir pünktlich am nächsten Tag wieder bei der Sekretärin erschienen, erwies sich, daß sie uns den wundertätigen Ausweis leider nicht einhändigen konnte, weil das zu den unabdingbaren Vorrechten des italienischen Außenministeriums gehörte. Sie hatte jedoch schon drei dringende Telegramme nach Rom gerichtet, wo das Dokument im »Officio Stampa« für uns vorbereitet sei.

»Signorina«, widersprach ich auf italienisch, »ich habe nicht die Absicht nach Rom zu fahren.«

»Sie müssen«, widersprach nun ihrerseits die Sekretärin. »Rom im Herbst ist einfach großartig.«

Ich machte ihr den Kompromißvorschlag, daß ich dann eben meinen Anspruch auf Fahrpreisermäßigung diesmal nicht geltend machen würde, aber sie blieb unerbittlich: »Die italienische Regierung legt größten Wert darauf, daß Sie ganz Italien sehen!«

Auch gut.

Wir landeten in Neapel, sahen es und starben. Dann fuhren wir mit dem Zug nach Rom, vorläufig noch zu vollem Preis. Um drei Uhr früh kamen wir an und baten einen verschlafenen Taxichauffeur, uns zu einem billigen Hotel zu fahren. Da er nur italienisch verstand, führte er uns zum Grand Hotel Maje- stic, das wir allen Millionären unter unseren Freunden aufs wärmste empfehlen können; es ist eine anheimelnde kleine Herberge mit süßen Zimmerchen, deren billigstes etwas dreißig Dollar kostet.

Auch gut. Schließlich wollten wir hier ja nur den Rest der Nacht verbringen.

Zeitig am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg zu unsrem Bestimmungsamt. Ich winkte ein Taxi herbei und gab mit souveräner Gleichmäßigkeit das Fahrtziel an: »Officio Stampa!«

Eine halbe Stunde später waren wir am Forum Romanum gelandet, einem weiträumigen, außerordentlich eindrucksvollen Platz (wenn man von den abscheulichen Ruinen absieht). Ich wies den Fahrer auf die geringe Wahrscheinlichkeit hin, daß wir hier ein »Officio« finden würden, ganz zu schweigen von »Stampa«, aber auch er verstand nur Italienisch und setzte die Fahrt in Richtung Bologna fort. Unterwegs zu dieser wichtigen oberitalienischen Industriestadt widerfuhr uns das erste Wunder: Unser Wagen wurde kurz vor Siena von einem Verkehrspolizisten aufgehalten, der ein paar Worte französisch sprach und uns informierte, daß »Officio Stampa« nicht, wie wir geglaubt hatten, der italienische Ausdruck für »Außenministerium« war, sondern so viel wie »Pressebüro« hieß, was natürlich die verschiedensten Deutungen zuließ.

Der Fahrer entschuldigte sich für das Mißverständnis, und von jetzt an lief alles wie am Schnürchen.

Das italienische Außenministerium erstreckt sich über rund dreihundert Morgen fruchtbaren Landes und ist in spätem Mussolini-Stil ganz aus Marmor gebaut. Um keine weitere Zeit zu vergeuden, steuerten wir direkt auf die beiden cherubinischen Schwertträger zu, die den Eingang bewachten, und fragten sie nach dem Weg zum Pressebüro. Der eine Cherub erwies sich als taubstumm und der andere verstand nur den lokalen Dialekt, nämlich italienisch. Um diese Zeit hatte die lebensspendende Mittelmeersonne ihren Zenit längst überschritten, so daß unsere Mägen vor Hunger die seltsamsten Geräusche von sich gaben. Es klang, als holperte eine alte Postkutsche über eine schlechtgepflasterte Straße. Auf diese Weise fanden wir das Officio.

Ein freundlicher Beamter empfing uns und lauschte mit großem Interesse unsrer weitschweifigen Erzählung vom Sonder- Ermäßigungs-Ausweis, der uns bei ihm erwarten sollte. Unglücklicherweise hatte der Beamte als einzige Sprache die seiner Mutter erlernt, einer Italienerin. Es fiel uns auf, daß aus dem Schwall seiner sichtlich von Komplimenten strotzenden Gegenrede immer wieder ein Wort hervorsprang, das »subito« hieß und weiter nichts zu bedeuten schien.

 

Dessenungeachtet.

Die beste Ehefrau von allen verlor dessenungeachtet nicht den Kopf und hielt dem Beamten in jähem Entschluß unsere heimische Presselegitimation unter die Nase, worauf er selig zu lächeln begann und ein übers andre Mal »Israel! Israel!« ausrief. Dann stürzte er ins Nebenzimmer und kam mit einem ändern Beamten zurück, den wir sofort als Jude agnoszierten, denn er hatte schwarzes Haar und begleitete seine Worte mit heftigen Gesten, wie alle Italiener. Wir waren gerettet. Der ewige Jude umarmte uns, faßte uns abwechselnd an den Schultern und jauchzte in einwandfreiem Hebräisch: »Eichmann! Eichmann!«

Wir machten ihm klar, daß wir den versprochenen Ermäßigungsausweis dringend benötigten, weil wir sonst der Räuberbande vom Grand Hotel noch weitere dreißig Dollar in den Rachen werfen müßten. Der ewige Jude versank in tiefe Gedanken. Dann sagte er: »Eichmann!«

Das war keine ganz befriedigende Antwort, aber zum Glück erschien in diesem Augenblick der Direktor des Officio, ein eleganter, weltmännischer Typ, der fließend italienisch sprach. Er untersuchte meine Presselegitimation eine halbe Stunde lang, murmelte etwas, das wie »un momentino« klang, und schloß sich mit seinen Hilfskräften in einem nahe gelegenen Konferenzzimmer ein.

Gegen Abend kam er heraus und richtete eine gebärdenreiche Ansprache an mich, die kein Ende nehmen wollte. »Sir«, unterbrach ich ihn schließlich und stützte mich, wie in allen derartigen Fällen, auf meine Englischkenntnisse.

»Warum sprechen Sie italienisch mit mir, wo Sie doch sehen, daß ich kein Wort verstehe?«

Der Direktor jedoch verstand kein Wort, denn er sprach nur italienisch.

Abermals kam uns der ewige Jude zu Hilfe: »Wir haben ja Interpret!!« rief er und klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirne.

Das bedeutete eine entschiedene Wendung zum Besseren, vielleicht gar einen Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus in unserer Zeit. Wir sausten auf die Straße, durchquerten behende die Stadt und fanden in den angrenzenden Wäldern den offiziellen Dolmetsch der italienischen Regierung, einen verhältnismäßig jungen, gutgekleideten Mann, der uns mit der sprichwörtlichen Italienischen Gastfreundschaft empfing. Er war unverkennbarer Intelligenzler, hatte summa cum laude an der Universität Padua in Kunstgeschichte promoviert und wußte, wie wir an Hand verschiedener von ihm ins Gespräch eingestreuter Namen feststellen konnten, auch in der italienischen Literatur vortrefflich Bescheid. Eigentlich hatte er nur einen einzigen Fehler; er sprach keine andere Sprache als Italienisch. Nach einer Weile gab ich der besten Ehefrau von allen zu bedenken, ob wir nicht vielleicht besser täten, durch das Fenster in den wunderschönen Garten hinunterzuspringen und in der Dunkelheit zu verschwinden. Meine Gattin replizierte mit der unwiderleglichen Feststellung, daß siebzig Prozent schließlich siebzig Prozent wären. Ich fühlte meinen Haß gegen Florentiner Strohtaschen unheimlich wachsen.

Wir beschlossen, in das Büro des weltmännischen Officio- Direktors zurückzukehren: außer mir selbst noch meine Gattin, der Beamte, der ewige Jude, der Dolmetscher und ein hinzugekommener junger Mann, der uns fast pausenlos Witze in neapolitanischem Dialekt erzählte und sich dabei vor Lachen die Seiten hielt.

Im Officio angekommen, riß ich den Notizblock des Direktors an mich, zeichnete eine primitive Eisenbahn mit Rauchwölkchen darauf und ergänzte die graphische Darstellung durch folgenden Text:

»70 % - giornalista - prego.«

Damit war unverkennbar etwas Licht in die bisher so dunkle Angelegenheit gekommen. Der Direktor ließ abermals die Worte »un momentino« fallen, griff nach einer in Leder gebundenen Ausgabe der Republikanischen Verfassung und begann sie auswendig zu lernen. Der neapolitanische Witzerzähler händigte mir unterdessen einen Stoß Formulare ein, die ich, wie mir der Dolmetsch erklärte, in deutlich lesbarem Italienisch ausfüllen sollte. Ich warf blindlings Ziffern, Daten und Wortbrocken aufs Papier. In Zweifelsfällen half ich mir mit »Spaghetti alla Bolognese.«

Nach Abschluß der Meinungsforschung packte mich der Neapolitaner am Arm und zog mich auf die Straße. Wir überquerten den Tiber und gelangten zu einem einsamen Gebäude am Stadtrand, wo wir eine Unzahl von Treppen hinaufeilten und vor einem kinokassenähnlichen Verschlag haltmachten. Als der Neapolitaner versuchte, mir die Brieftasche zu ziehen, gerieten wir in ein Handgemenge - bis mir dämmerte, daß er nur die sechshundert Lire für den Ermäßigungsausweis bei mir kassieren wollte.

Mit Hilfe eines internationalen Codes machte ich ihm begreiflich, daß ich bereits in Tel Aviv gespendet hatte, worauf er ein Kapitel aus Dantes »Inferno« rezitierte. Ich gab ihm sechshundert Lire.

Als wir zu unsrer Ausgangsbasis zurückkehrten, fand ich die beste Ehefrau von allen in einem alarmierenden Zustand: halb bewußtlos in ihren Sessel hingestreckt, aus glasigen Augen vor sich hin starrend und stoßweise atmend. Ich muß jedoch in aller Fairneß zugeben, daß auch der Stampa-Direktor schon seit zwölf Stunden nichts gegessen hatte. Er blätterte rastlos immer neue Listen durch und forschte nach meinem Namen. Plötzlich - ich werde diesen Augenblick nie vergessen - es war wie eine Erscheinung -; plötzlich erspähte ich auf einer solchen Liste ganz oben den Namen Kishon. Ich deutete zitternd auf die betreffende Stelle und rief mit vor Aufregung versagender Stimme: »Mio! Mio! Mio!«

Der Direktor sah mich befremdet an und überschüttete mich mit einem neuerlichen Redeschwall, den ich zwar infolge meiner unverändert dürftigen Italienischkenntnisse nicht verstand, der mir aber an Hand der zahlreichen Gesten ungefähr folgendes zu bedeuten schien:

»Ja, ja. Bene, bene. Nehmen wir an, dies sei Ihr Name. Und nehmen wir an, dies sei ein Verzeichnis der Auslandsjournalisten, die auf Fahrpreisermäßigung Anspruch haben. Was weiter? Was weiter?«

Nach einer stummen, gedankenschweren Pause ließ der Direktor wieder einen seiner »momentinos« fallen, hob den Telefonhörer ab, nahm eine lange fernmündliche Instruktion seiner offenbar vorgesetzten Stelle entgegen und begann einen Bericht in acht Exemplaren auszufertigen, den er in den langsamsten Blockbuchstaben seit Julius Cäsar auf das Papier kerbte. Sobald er mit einem Blatt fertig war, wurde es durch Sonderkurier zur staatlichen Kontrollstelle befördert. Und zwischendurch warf der Direktor so grimmige Blicke nach mir, daß ich mich allmählich fragen mußte, ob er nicht vielleicht anstelle des Ermäßigungsantrags einen Haftbefehl ausstellte.

Irgendwann kommt der Moment, da selbst das längste Protokoll beendet ist. So geschah es auch hier, und der Direktor zögerte nun nicht länger, sich mit dem Innenminister zu einer Konferenz auf höchster Ebene zurückzuziehen. Nur einmal steckte er kurz den Kopf durch die Türe und fragte, was wir wünschten. Die beste Ehefrau von allen war, es läßt sich nicht leugnen, einem Nervenzusammenbruch nahe und brachte nichts weiter hervor als kleine, spitze Schreie: »Quanto costa? Quanto costa?«

Jetzt schien selbst der Direktor zu merken, daß wir ein wenig ungeduldig wurden, rief nach dem Portier und beauftragte ihn, uns sofort mit einigen italienischen Zeitschriften zu versorgen. Endlich schliefen wir ein.

Als wir erwachten, sahen wir uns von der gesamten Belegschaft des Officio Stampa umringt. Alle lächelten. In der Mitte stand der Direktor und übergab mir eigenhändig die ersehnte Ausweiskarte. Zwar konnte ich den Text, weil er italienisch war, nicht lesen, aber die Freundlichkeit ringsum erwärmte unsere Herzen, und wir traten guter Dinge in die kühle Nacht hinaus...

»Ausweis? Was Ausweis?« fragte der Hotelportier in gebrochenem Deutsch. »Papier schreibt, du morgen gehen Verkehrsministerium. Transportino.« Mehr tot als lebendig fielen wir in unsere damastenen Betten unter dem brokatenen Baldachin. Das Grand Hotel hatte nämlich in der Zwischenzeit unser kleines, spottbilliges Dreißig-Dollar-Zimmer weitervermietet, und jetzt war nur noch das ehemalige Fürstenappartement Seiner Majestät König Victor Emanuels I. frei, Tagespreis fünfundachtzig Dollar.

Nach einem friedlichen, erfrischenden Schlummer von zehn Minuten weckte mich meine Frau und beschwor mich, in der Sache der Fahrpreisermäßigung keinen weiteren Schritt mehr zu unternehmen, auch nicht den allerkleinsten, denn selbst der allerkleinste würde uns ins Grab bringen.

»Weib«, erwiderte ich, »es geht nicht um die siebzig Prozent. Es geht um die Menschenwürde an sich...«

Mit einem lässig hingeworfenen »Transportino« begannen wir am nächsten Morgen unsre Taxi-Rundfahrt. Wir erfreuten uns bereits gewisser Beliebtheit unter den römischen Chauffeuren. Der Fahrer verstand uns auf Anhieb. Bald darauf standen wir vor einem grandiosen Palastportal, das von zwei Hel- lebardieren in altmodisch pompösen Gewändern bewacht wurde. Wir traten ein, durchquerten das Vatikanische Museum, verließen es auf der anderen Seite, mieteten einen zwei- rädrigen Karren, sagten diesmal nicht »Transportino«, sondern »Transportatia«, und erreichten Sorrent, einen bekannten, inmitten lieblicher Wälder gelegenen Kurort.

Es ließ sich nicht länger leugnen: Ich war ein gebrochener Mann, in geistiger, seelischer, körperlicher und finanzieller Hinsicht. Ängstlich schielte ich zu meiner Frau hinüber. Aber da zeigte sich, was eine wahre Lebensgefahrtin ist. Die beste Ehefrau von allen straffte sich, preßte die Lippen zusammen und äußerte mit unheilvoller Entschlossenheit:

»Ein Schuft, wer jetzt aufgibt. Wir werden dieses verdammte Verkehrsministerium finden, und wenn wir daran zugrunde gehen.«

Es wäre aussichtslos, den Gemütszustand beschreiben zu wollen, in dem wir uns wieder auf den Weg machten. So ähnlich muß den ersten Christen zumute gewesen sein, als sie sich zum Rendezvous mit den Löwen begaben...

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir vor dem Verkehrsministerium standen. Wie wir es gefunden hatten? Zeit und Raum reichen nicht aus, diese schier unglaubliche Geschichte zu erzählen, in der ein geduldiger Autobusschaffner, ein südafrikanischer Pilot und ein gutherziger Kellner, dessen Onkel in Ferrara glücklicherweise etwas Englisch verstand, die tragenden Rollen spielten.

Im Verkehrsministerium empfing man uns mit Widerwillen, gemildert durch Überraschung. Vermutlich war ich der erste Auslandsjournalist, der sich bis zu dieser letzten Etappe durchgeschlagen hatte.

Mit neuer Kraft nahmen wir den Angriff auf. Man hetzte uns durch sämtliche Stadien der amtlichen Klaviatur, vom piano superiore über das andante cantabile bis zum allegro moderato. In der ausdrucksreichen Gebärdensprache, die wir uns mittlerweile angeeignet hatten, machten wir unser Anliegen allgemein verständlich: Wir - sch-sch-sch-sch - Eisenbahn - (zusätzlicher Pfiff) - giornalisti - sch-sch-sch- riduzione - 70 % (zusätzliche Niederschrift). Neue Berichterstattungsformulare wurden ausgefüllt und verschickt. Konferenzen wurden einberufen. Die Telegraphendrähte summten.

In der Dunkelheit verließen wir das segensreiche Gebäude. Meine linke Brusttasche barg ein in rotes Maroquinleder gebundenes Dokument, das mit meinem Lichtbild geschmückt war: Ferrovie dello Stato... a tariffo ridutto del 70 % ...

Stumm schritten wir unter den glitzernden Sternen dahin. Tränen der Freude und der Erlösung rannen über unsere eingefallenen Wangen. Noch nie im Leben hatten wir ein so prachtvolles Papier unser eigen genannt. Daß wir es jetzt gar nicht mehr brauchten, fiel demgegenüber kaum ins Gewicht. Hatten wir doch schon halb Italien bereist, zu vollen Preisen, wie es von vornherein die Absicht der listenreichen italienischen Regierung gewesen war...

Nachtrag zum Ermäßigungsproblem: Wie der geneigte Leser sich vielleicht erinnert, war vor einigen Seiten die Rede davon, daß ich mir beim Ausfüllen der Fragebogen, wann immer ich auf eine besonders schwierig zu beantwortende Frage stieß, mit der Antwort »Spaghetti alla Bolognese« behalf. Leider traf ich damit das gastfreundliche italienische Volk an einer besonders empfindlichen Stelle.

Man weiß, daß jedes Volk eine Nationalspeise hat (die Israelis zum Beispiel den arabischen Skish-kebab). Für die Italiener bedeuten jedoch Spaghetti keine bloße Nationalspeise, sondern eine psychopathologische, traumatisch vererbte Zwangshandlung. Die Italiener essen fast pausenlos, und fast pausenlos Spaghetti. Es gibt schlechthin nichts, wozu sie keine Spaghetti äßen. Wenn man ein Beefsteak bestellt, greift der Kellner zuerst einmal in einen Bottich mit Spaghetti. Ohne Spaghetti kein Fleisch, kein Fisch, keine Vorspeise, keine Nachspeise, keine Spaghetti. Einmal, als ihr wieder die nicht bestellten Spaghetti serviert wurden, wagte meine todesmutige Gattin Einspruch zu erheben: »Bitte, wir haben keine Spaghetti bestellt.« »Signora«, wies der Kellner sie zurecht, »das sind keine Spaghetti. Das sind Allegretti con brio alla pomodore di Ottorino Resphighi... «

Denn die Italiener haben immer wechselnde Namen für die immer gleichen Spaghetti. Man weiß eigentlich nie, was man ißt, wenn man Spaghetti ißt - außer daß es Spaghetti sind. Proteste fruchten nichts, da kann man reden, soviel man will. Fast scheint's, als wäre der weise Rat der Eule Lipschitz - »Lassen Sie ihn stottern!« - bis nach Italien gedrungen. Außerdem gehört es zu des weißen Mannes schwersten Bürden, die Kunst des Aufgabeins zu erlernen. Nach Italien eingewanderte Familien brauchen oft drei Generationen lang, ehe sie es fertigbringen, diese acht Meter langen Gummischläuche richtig zu rollen.

Eines Tages wurde es mir zu dumm. Ich zog mein Taschenmesser und zerschnitt die wild gewordene Spaghettischlange in kleine Stücke. Meine Gattin wollte vor Scham in die Erde versinken. Mich aber rettete meine Tollkühnheit vor dem Hungertod.

Neben den Spaghetti haben die Italiener noch eine andre Schwäche: Reiterstandbilder.

An jeder zweiten Straßenecke sieht man sich plötzlich einem Kriegshelden gegenüber. Der hoch zu Roß mit ausgestrecktem Arm und ebensolcher Adlernase auf seinem Postament thront. Eine lange lateinische Inschrift auf dem Postament preist den Mut und die Todesverachtung des bekannt martialischen Italienervolkes. Keine italienische Familie, die etwas auf sich hält, würde darauf verzichten, mindestens ein bis zwei Reiterstandbilder zu stiften. Sofort nach Beendigung der Trauerperiode besinnt sich die italienische Witwe und spricht:

»Unser Peppino ist doch immer so schrecklich gern zum

Pferderennen gegangen. Wir sollten ihm vor dem Laden ein Denkmal setzen... «

Und bald darauf thront der selige Peppino, das kampflustig gezogene Schwert in der Rechten, auf bronzenem Zelter inmitten des Marktplatzes, wo sich seine Gemischtwarenhandlung befindet, und rings um das Piedestal grüßen seine Kundschaften, in weißen Marmor gehauen, mit erhobenem Arm zu ihrem Helden empor...

Es ist nur natürlich, daß die Touristen das charmante, lebensfrohe, wohlgelaunte Volk Italiens lieben. Aber daß die Italiener ihrerseits die Touristen lieben, grenzt ans Perverse. Beinahe könnte man glauben, daß die Italiener es darauf angelegt hätten, die bekannte Lipschitz-Definition des Touristen Lügen zu strafen: sie betrachten den ausländischen Reisenden als menschliches Wesen und behandeln ihn mit liebevoller Obsorge. Manchmal geht diese Obsorge so weit, daß man sich überhaupt nicht mehr auskennt.

Ein gutes Beispiel dafür lieferte mir der hilfreiche Luigi. Ich trag ihn in Genua, am Tag meiner Ankunft. Auf einer ziellosen Wanderung durch die unübersichtlichen Straßen der Stadt hatte ich mich verirrt und hielt an einer Autobusstation inne, wo mehrere Leute warteten. Ein rundlicher älterer Herr mit einem kleinen Paket in der Hand erweckte mein Vertrauen. Ich fragte ihn nach dem Hotel Excelsior. Wieder einmal bestätigte sich mein genialer Instinkt: Der Mann sprach leidlich deutsch.

»Hotel Excelsior? Kommen Sie!«

Wir bestiegen den Bus und setzten uns nebeneinander.

Mein freiwilliger Führer deutete auf das kleine Paket und sagte:

»Ich habe mir wollene Unterhosen gekauft.«

»Ach?« antwortete ich. »Wirklich?«

»Im Winter muß man etwas Warmes um den Bauch haben«, fuhr mein Nachbar fort. »Sonst erkältete man sich. Meine Frau sagt mir immer: >Keine falsche Scham, Luigi<, sagt sie immer. >Du kannst dir ruhig ein Frottierhandtuch um den Leib binden.< Sie weiß, daß ich in diesen Dingen ein wenig schamhaft bin. Wir haben oft Streit deswegen. Sie, zum Beispiel, hängt ihre Busenhalter ungeniert auf dem Balkon zum Trocknen auf. Ich habe ihr schon dutzende Male - was sage ich, hunderte Male habe ich ihr gesagt: >Willst du denn unbedingt<, sage ich ihr immer wieder, >daß die Leute über dich reden?< Und was sagt sie darauf? Sie sagt: >Paß lieber auf dich selbst auf und komm nicht jede Nacht besoffen nach Haus<, sagt sie. Was sagen Sie dazu? Dabei ist sie so dick, daß die Stühle unter ihr zusammenbrechen, wenn sie sich draufsetzt... «

»Na ja«, warf ich ein. »So ist das Leben.«

»Ich habe sie geheiratet, obwohl sie nicht einen lausigen Centesimo im Vermögen hatte«, erweiterte Luigi seine Informationen. »Rein gar nichts hat sie in die Ehe mitgebracht, rein gar nichts. Darüber schweigt sie sich natürlich aus. Alles, was sie kann, ist keppeln und keifen und schimpfen. Und eifersüchtig ist sie! Bei der Madonna von Padua, so etwas von Eifersucht gibt es kein zweites Mal. Schon seit Jahren verdächtigt sie mich, daß etwas zwischen mir und der Signora Cattini los ist, die den Zeitungskiosk neben der Kathedrale hat, gleich rechts, unter den Arkaden. Und dabei schwöre ich Ihnen, lieber Herr, daß sie, also meine Frau, viel hübscher ist als diese Cattini. Auch wenn sie immer fetter wird. Das macht nichts. Das hab' ich sogar ganz gern. Aber versuchen Sie einmal, mit einer Wahnsinnigen zu reden. Ich bekomme kaum noch etwas andres zu hören als Cattini hin und Cattini her. Jede Nacht geht's von neuem los: >Du hast deine Zeitung schon wieder bei der Cattini gekauft. Ich hab's mit meinen eigenen Augen gesehen. Bei der Cattini .< Na wenn schon. Warum soll ich meine Zeitung nicht bei der Cattini kaufen? Ist das vielleicht ein Verbrechen?«

»Nein«, murmelte ich verlegen. »Ich glaube nicht, daß das ein Verbrechen ist.«

Unser Bus fuhr jetzt entlang der Meeresküste. Ein hinreißendes Panorama bot sich mir dar. Vom Hotel Excelsior war allerdings keine Spur.

Luigi nahm die Schilderung seines Elends wieder auf.

»Der einzige Mensch, der noch besser keppelt und keift als meine Frau, ist ihre Mutter. Manchmal keppeln und keifen sie beide zusammen. Dann falte ich die Hände und sage: >Bei der heiligen Mutter von Padua<, sage ich, >wie kann man so viel keppeln und keifen?< Und was antwortet diese alte Hexe von Schwiegermutter? Sie antwortet: >Du halt den Mund, du mit deinem Vorstrafenregister!< Vorstrafenregister! Einfach lächerlich. Nur weil man mich einmal, vor zwei oder drei Jahren, für eine kleine Weile eingesperrt hat. Marcello und ich hatten damals ein wenig über den Durst getrunken, wir waren in guter Laune und warfen ein paar Topfpflanzen durch ein paar Fensterscheiben. Das war alles. Sogar der Richter sagte: >Luigi<, sagte er, >ich betrachte deine makellose Vergangenheit und dein bitteres Schicksal als Milderungsgrund .< Das war alles. Und jetzt frage ich Sie, lieber Herr; ist das ein Vorstrafenregister? Sie kommt aus einer Familie mit Vorstrafen, sie. Das kann ich Ihnen ruhig sagen, es ist kein Geheimnis. Die ganze Welt weiß, daß ihr Vater ein Rauschgiftschmuggler war. Er hat bei dieser Gelegenheit drei Finger verloren, weil sie ihm weggeschossen wurden. So einer war er. Einmal kommt mein Töchterchen aus der Schule nach Hause und fragt: >Pappi<, fragt sie, >ist es wahr, daß man unsern Opa gehängt hat?< Was soll man da sagen. Ich kann das arme Kind doch nicht anlügen. Schlimm genug, daß sie in der Schule solche Sachen hört. Wo sie doch ohnehin jedes Jahr durchfällt. Zum Glück fuhren wir damals gerade im Bus, und ich konnte sie ablenken. >Es ist Zeit zum Aussteigen<, sagte ich. >Es ist Zeit zum Aussteigend«

Erst als er sich erhob und dem Ausgang zustreben wollte, wurde mir klar, daß seine letzten Worte sich bereits auf die Gegenwart bezogen. Ich hielt ihn zurück.

»Entschuldigen Sie - wie weit ist es jetzt noch zum Hotel Excelsior?«

»Hotel Excelsior? Nie gehört. Aber Sie werden es schon finden.« Er winkte mir zum Abschied fröhlich zu. »Nette kleine Unterhaltung, die wir miteinander hatten, wie? Auf Wiedersehen! Und viel Glück!«

Zu den vielen Talenten der italienischen Nation gehört auch ein hervorragend entwickelter Geschäftssinn. Ich kann mich nicht entsinnen, daß meine Gattin oder ich oder wir beide aus einem italienischen Laden jemals nur mit den Dingen herausgekommen wären, zu deren Einkauf wir uns hineinbegeben hatten. Noch der kleinste italienische Geschäftsinhaber verfügt über eine schlechthin unwiderstehliche Verkaufstechnik, die er durch einen pausenlosen Redeschwall und ein im wahrsten Sinne gewinnendes Lächeln unterstützt. So füllten sich unsere Koffer beklemmend rasch mit allen möglichen Farben, mit scharf zugespitzten Schuhen, mit den feinsten Salatölen, mit Strohhüten und Füllfedern und Feuerzeugen. Es war einfach unmöglich, einem italienischen Verkäufer nein zusagen. Und von jedem kleinen Verkaufsstand, den wir auf der Straße erspähten, fühlten wir uns mit magnetischer Gewalt angezogen.

Es folgt nunmehr die Geschichte vom Zauberpulver.

Eines Tages sah ich unweit des Doms eine wogende Menge, die sich um einen jungen Mann von rustikalem Äußeren drängte. Der junge Mann hielt einen weißgrauen Stoffetzen mit zahlreichen abscheulichen Flecken in der Hand und schwenkte ihn aufgeregt durch die Luft, während er den folgenden, vollkommen pausenlosen Begleittext von sich gab:

»...die Gattin schreit entsetzt auf und springt in die Höhe reißt sich büschelweise die Haare aus und schreit Pappa schreit sie du hast schon wieder dein Jackett dein Hemd deine Krawatte dreckig gemacht oder dein Pyjama deine Unterhosen deine Socken oder weiß Gott was schreit sie ununterbrochen aber kein Anlaß zur Aufregung junge Frau nur die Ruhe nur die Ruhe. Sie nehmen ganz einfach dieses Zauberpulver und streuen ein klein wenig darauf nur ein klein wenig streuen Sie auf den Fleck und tauchen das Ganze kurz ins Wasser und wenn Sie's herausziehen bleibt Ihnen der Mund vor Staunen offen der Fleck ist verschwunden er ist weg er ist fort er ist nicht mehr da er hat sich in Nichts aufgelöst er ist unsichtbar es hat nie einen Fleck gegeben und Pappa bekommt einen Kuß und alles ist in Ordnung...«

Den zweiten Teil seiner Rede begleitete der junge Mann mit überzeugenden Demonstrationen, indem er den Fetzen abwechselnd in Benzin, in Terpentin, in Zitronensaft in Schwefelsäure und noch in einige andere Lösungen tauchte, ohne daß sich an den Flecken etwas änderte. Dann bestreute er einen Fleck mit etwas Zauberpulver, ließ ihn ein kurzes Wasserbad nehmen - und siehe da: der Fleck war weg und verschwunden und unsichtbar und nicht mehr vorhanden.

»...weit und breit alles wie neu und wenn die Hausfrau entsetzt aufschreit und in die Höhe springt und sich die Haare büschelweise ausreißt gibt Pappa ein wenig Zauberpulver drauf und bekommt einen Kuß die Packung zu hundert Lire nicht mehr als eine Schachtel Zündhölzchen zwei Jahre Garantie der Fleck ist weg...«

Kein Zweifel: Ein gütiges Schicksal hatte mich mit diesem jungen Ökonomen zusammengeführt. Ich erstand fünf Packungen mit Gebrauchsanweisung, sauste ins Hotel und verzierte das kostbare Seidentuch, das wir erst tags zuvor gekauft hatten, mit einem kunstvollen Tintenfleck. Und die Gattin schrie entsetzt auf sprang in die Höhe riß sich büschelweise die Haare aus aber kein Anlaß zur Aufregung junge Frau nur die Ruhe nur die Ruhe wir nehmen ganz einfach dieses Zauberpulver und streuen ein wenig drauf und tauchen das Ganze kurz ins Wasser und ziehen es heraus und der Fleck ist noch da und sichtbar und vorhanden und geht nicht weg und wird immer größer.

Pappa bekam keinen Kuß.

Dann fiel mir ein, daß das Zauberpulver vielleicht nur eine bestimmte Art von Flecken entfernt, die in Italien patentiert waren. Ich sauste zum Dom zurück. Aber der junge Mann mußte sich mittlerweile selbst mit einer größeren Dosis Zauberpulver bestreut haben. Er war verschwunden weg fort unsichtbar nicht mehr da.

Sollte ihm dieses Buch zufällig einmal in die Hand fallen, dann möge et mir auf raschestem Weg fünf Packungen italienische Flecken zukommen lassen. Ich zahle.

Wie man sieht, haben die Italiener ihr gesamtes Wirtschaftsleben auf den Fremdenverkehr zugeschnitten. Und sie fahren gut damit.

Nehmen wir den Schiefen Turm von Pisa. Er bringt dieser glücklichen Stadt ungleich mehr Geld ein als der Orangenexport. Und dabei ist der Turm, wie wir bei genauerer Inspektion feststellen konnten, in Wirklichkeit gar nicht schief. Sondern das ihn umgebende Erdreich wurde in so raffinierter Weise ab und umgegraben, daß für den oberflächlichen Beschauer der Eindruck entsteht, als neige der Turm sich zur Seite.

Oder Siena. Dort wohnten wir dem »Pallio« bei, einem ganz gewöhnlichen Pferderennen von einer Minute Höchstdauer. Aber da die Gewänder der Reiter, die Schabracken der Pferde und alle übrigen Requisiten aus dem Mittelalter stammen (oder nach mittelalterlichen Mustern kopiert sind), hat der Tourist das Gefühl, lebendige Geschichte in sich aufzunehmen.

Oder San Gimignano, ein kleines Nest und offenbar die Gründungsstätte der italienischen Fremdenverkehrsindustrie, denn die Einwohner haben bereits vor dreihundert Jahren aufgehört, sich mit irgend etwas zu beschäftigen, ihre Häuser zu reparieren oder andere dringend erforderliche Arbeiten vorzunehmen. Sie sitzen in malerischen Gruppen auf dem Dorfplatz und lassen sich von den Touristen gegen nicht unerhebliches Entgelt besichtigen.

Oder Florenz, betörend an den Ufern des Arno gelegen, eine verwunschene Prinzessin, die dem Reisenden zuflüstert: »Ciao... ich bin die Witwe von Leonardo da Vinci...«

Oder die Märchengestalt Venedig, der Schauplatz gewaltiger Gondelschlachten. In einer dieser Schlachten erlitten wir eine schmähliche Niederlage.

Einem weitverbreiteten Irrtum zufolge ist Venedig der Ort, wo alle Jungvermählten in einem Taumel von Glück ihre Flitterwochen verbringen. Das stimmt nicht ganz. Es ist gar nicht so leicht, in Venedig glücklich zu sein.

Wenn man nicht sehr gut aufpaßt, beginnen die Schwierigkeiten gleich bei der Ankunft: Man steigt aus dem Zug und plumpst in die nächste Lagune. Denn die Stadtväter dieser uralten Siedlung haben - in weiser Voraussicht späterer Verkehrsunfälle - die Straßen durch Kanäle ersetzt und auf den wenigen verbleibenden Festlandswegen jeden Auto- und Wagenverkehr untersagt.

Da meine Frau eine sehr schlechte Schwimmerin ist, erkundigten wir uns noch in der Bahnhofshalle, wie wir wohl am besten in unser Hotel kämen.

»Nehmen Sie ein Motorboot-Taxi«, lautete die Auskunft.

»Gleich vor dem Bahnhof finden Sie jede gewünschte Menge. Aber mieten Sie unter gar keinen Umständen eine Gondel. Das käme viel zu teuer.«

Nachdem wir unser Gepäck aus dem Bahnhof hinausgeschafft hatten, hielten wir Ausschau nach einem Motorboot-Taxi. Es gab keines. Hingegen gab es eine unübersehbare Flotilla von Gondeln, jede mit einem Gondoliere in schwungvollen schwarzen Hosen und blau-weiß gestreiftem Leibchen; und jedem leuchtete die Geldgier aus den Augen. Sei's drum! dachten wir und bestiegen eines der romantisch schaukelnden Fahrzeuge. Ein alter Venezianer mit einer wasserglitschigen Lenkstange half uns für 100 Lire beim Einsteigen, einer seiner jüngeren Nachkommen verstaute für 200 Lire unser Gepäck unter den feuchten Sitzen, und ein dritter sagte für 50 Lire:

»Avanti.«

Die Gondelfahrt war eine reine Freude, nur mäßig getrübt durch ein Gefühl der Scham, das den israelischen Bürger zwangsläufig überkommt, wenn er sich lässig in seinen Polstersitz zurücklehnt und mit ansehen muß, wie sein Nebenmensch sich unter der Anstrengung des Ruderns krümmt. Die Gondel als solche erinnerte uns an jene historischen Fahrzeuge, mit denen einstmals die Wikinger halb Europa erobert hatten. Jedenfalls scheinen die Gondeln aus einer Zeit zu stammen, in der die Sklaverei erlaubt und Koffer unbekannt waren.

Unser Wikinger ließ sich's trotzdem nicht verdrießen und sang mit schmetternder Stimme sein »O sole mio...«.

Die beste Ehefrau von allen war sichtlich hingerissen und hätte vor Rührung vielleicht zu weinen begonnen, wenn ihr nicht bei jedem dritten Ruderschlag der schwerste unserer Koffer gegen das Schienbein gerutscht wäre. Ich meinerseits malte mir aus, wie uns der Wikinger beim Zahlen überfordern würde und wie ich das am besten vereiteln könnte.

»Amico«, würde ich ihm sagen, »bei mir sind Sie an den Falschen geraten. Einen Neuling können Sie vielleicht übers Ohr hauen, mich nicht...«

»Zweitausend Lire!« Die Gondel hatte vor dem Hotel angelegt. »Due mille!«

»Amico -«

Weiter kam ich nicht. Der Gondoliere begann zu schimpfen und zu fluchen, molto Gepäck, molto müde, molto bambini zu Haus und Santa Maria della Croce um die Ecke. Es war ein entsetzliches Schauspiel. Ich beeilte mich, ihn um den Preis von 2000 Lire so rasch wie möglich loszuwerden, und da er mich beim Kofferausladen nicht störte, gab ich ihm sogar noch 100 Lire drauf.

Und?

Der Mann hatte das Geld in seiner weiteren Hosentasche verschwinden lassen, lächelte und rührte sich nicht.

»Arrivederci«, rief ich ihm zu. »Machen Sie, daß Sie weiterkommen. Auf was warten Sie noch?«

»Ein Trinkgeld«, flötete er. »Ein ganz kleines Trinkgeld, Si- gnor... «

»Das ist die Höhe! Haben Sie mir nicht zweitausend Lire abgeknöpft? Habe ich Ihnen nicht freiwillig um hundert Lire

mehr gegeben?«

»Ja, gewiß«, entgegnete sanft der Wikinger. »Das war das offizielle Trinkgeld. Aber es ist üblich, auch noch ein privates Trinkgeld zu geben.«

Wortlos kehrte ich ihm den Rücken. Ich gab ihm nichts weiter als noch 50 Lire.

Der Hotelportier, der die ganze Szene aus einiger Entfernung stumm beobachtet hatte, fragte mich, warum wir nicht mit dem Motor-Taxi gekommen wären. Und ob wir denn nicht wüßten, daß nur Wahnsinnige noch Gondeln mieten. Und wieviel dieser Verbrecher aus mir herausgepreßt hätte.

»Aus mir preßt keiner etwas heraus«, sagte ich überlegen.

»Er hat fünfzehnhundert Lire verlangt und fünfzehnhundert Lire bekommen.«

Der Portier warf einen verzweifelten Blick zum Himmel, holte das offizielle »Fremdenverkehrs-Handbuch der Stadt Venedig« von seinem Pult und schlug die Seite mit dem Gondeltarifen auf:

»Liebespaar mit acht Koffern - 800 Lire«, las ich.«

Zu Mittag bekamen wir einen kleinen Teil unserer Kosten wieder herein. Im Restaurant fiel einer am Nebentisch sitzenden Dame das Messer zu Boden, und eingedenk meiner guten Erziehung bückte ich mich, um es ihr zu reichen, worauf sie mir 200 Lire in die Hand drücken wollte. Mit einem hurtigen »Grazie«, schnappte meine Frau nach dem Geldstück, stopfte es in ihre Handtasche und bemerkte nach einer Weile, die geizige alte Hexe hätte ruhig mehr geben dürfen...

Über die Höhe der Restaurantrechnung gehe ich vornehm hinweg. Schließlich waren da auch die beiden goldstrotzenden uniformierten Kellner berücksichtigt, die man ununterbrochen im Rücken stehen hat, der eilfertige, in blendendes Weiß gekleidete Mundschenk, und das Privileg, daß man vom Chef persönlich aus einer kostbaren alten Kristallkaraffe das Öl über den Salat geschüttet bekommt. Das alles ist sein Geld wert. Aber für Gondelfahrten würden wir keine einzige Lira mehr ausgeben.

Nur einmal fielen wir noch in die Klauen der Seeräuber. Wir hatten gerade dem jüdischen Ghetto einen Höflichkeitsbesuch abgestattet und wankten, müde vom Gehen und deprimiert von der Erinnerung an den Kaufmann von Venedig, dem Canal Grande zu, als mir ganz beiläufig der Gedanke kam, daß wir vielleicht doch, angesichts der besonderen Umstände, und wenn wir schon da sind, und wenn's schon so heiß ist, und warum nicht...

Rascher als man »Shylock« sagen kann, umringte uns eine Schar bewaffneter Wikinger, die meine Gedanken erraten haben mußten, versperrten sämtliche Ausfallswege und ließen mir keine Wahl, als mich einem von ihnen, dem nach außenhin freundlichsten, zu nähern (die anderen verschwanden unter gotteslästerlichen Flüchen).

»Quanto costa?« fragte ich.

»1900.«

Ich zog die offizielle Broschüre aus der Tasche und zeigte ihm die Stelle mit den 800 Lire. Die Folge war ein epileptischer Anfall des Gondoliere, den ich nicht mit ansehen konnte. Ich machte ihm ein letztes Angebot:

»1300.«

»1750.«

Also gut, 1600.«

»1750.«

»In Ordnung«, sagte ich. »Aber das heißt dann 1750 alles in allem, einschließlich Trinkgeld, Abnützungsgebühr, Verkehrssteuer, Reparatur und Babysitter. 1750 und Schluß. Verstanden?«

»Si, Signor, 1750 und keine Lira mehr.« Die Gondel glitt lautlos über das unsaubere Wasser. Wir saßen in angespanntem Schweigen. Wo steckte die Falle, die uns der Wikinger doch sicherlich gelegt hatte? Was stand uns noch bevor?

Lautlos glitt die Gondel dahin, vollkommen lautlos.

»Was soll das?« fragte nervös die beste Ehefrau von allen.

»Warum singt er nicht? Ich halte diese Stille nicht länger aus.« Damit wandte sie sich den Gondoliere: »O sole mio, s'il vous plait!«

»Prego, Signora.«

Und schon erklang sein schmelzender Tenor. Die süße, verführerische Melodie ließ uns beinahe sentimental werden. Beinahe schien es uns, als käme aus der wetterharten Brust des Piraten eine lang verschüttete Menschlichkeit zum Vorschein... als spülten die Fluten des Canal Grande siegreich Venedigs merkantile Entartung hinweg... als bestünde die Welt aus eitel Güte, Gesang und Lächeln...

Auf dem Gesicht meiner Gattin erstarrte dieses Lächeln plötzlich zu einer angstvollen Grimasse: »Um Himmels willen«, flüsterte sie. »Und ich habe ihn darum gebeten...!«

Aber es war zu spät. Schon hielten wir vor dem Hotel. »3000«, sagte der Gondoliere ruhig und unwidersprechlich. »1750 für die Fahrt, 1250 für die Serenade.«

Die beste Ehefrau von allen, zitternd am ganzen Körper und das kleine hübsche Gesicht gräßlich verzerrt, trat dicht an den Erpresser heran und verlangte zu wissen, was eigentlich an diesem schäbigen »O sole mio« 1250 Lire wert sei.

»Spezialista!« lautete die bereitwillige Antwort. »Tenore! Molto Stimme, molto Anstrengung, molto bambini, Santa Maria... «

Er bekam die 3000 Lire und nicht mehr als 150 Lire Trinkgeld. Nicht eine Lira mehr. Alles hat seine Grenzen.

Zufrieden bestieg er seine Gondel und ruderte ab. Noch lange hörten wir aus der Ferne sein »O sole mio...«

Von da an hielten wir uns unerbittlich an unsern Schwur, keine Gondel mehr zu benützen. Das war mit gewissen Mühen verbunden, denn die Kunde, daß ein verrücktes Ausländerpaar jeden geforderten Preis für eine Gondelfahrt bezahle, hatte sich unter den Gondolieri wie ein Lauffeuer verbreitet. Schon früh am Morgen klopfte es an unsre Tür:

»Bella Tour durch Venezia! Bellissima Gondola! Nur 2650 Lire! Inclusive >O sole mio<!«

Auch den Besuch von Restaurants gewöhnten wir uns ab.

Das Problem, wie wir uns ohne goldbetreßten Kellner ernähren sollten, löste sich leicht und glücklich, als wir einen dieser wundertätigen Automaten entdeckten, die in immer größerer Zahl Europas Fortschrittsfluren übersäen. Er trug einen Wegweiser zu seinen verschiedenen Schlitzen und Knöpfen und Schubfächern: »Hier 100 Lire... Hier drücken... Hier Käsesandwich alla Milanese... Hier ziehen... Hier mit der Faust draufschlagen... «

Als wir das alles vorschriftsmäßig besorgt hatten, kam jedoch keinerlei Sandwich heraus, sondern in einem plötzlich erleuchteten Glasquadrat erschien die Inschrift: »Bitte noch 50 Lire. Willkommen im sonnigen Italien.« Ich versuchte es mit 20 Lire, drückte, zog, hieb mit der Faust drein, zog nochmals und hielt tatsächlich ein in Cellophan eingepacktes Käsesandwich in der Hand, das übrigens ganz vorzüglich schmeckte. Dankbar warf ich 10 Lire in einen der noch nicht von mir benützten Schlitze. Ein Schubfach sprang auf und reichte mir einen Zettel: »Grazie!«

Der Tag unserer Abreise in die Schweiz war gekommen. Zur Sicherheit hatte ich ein Motorboot bestellt, das uns eine Stunde vor Abgang des Zuges zum Bahnhof bringen sollte. Jeder Preis war mir recht, wenn ich nur diesen Gondelpiraten kein Geld mehr in den Rachen werfen mußte.

Das Motorboot kam nicht. Ich weiß nicht, warum, aber es kam nicht. Das kann passieren. Sogar in Italien.

Als nur noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrtszeit des Zuges fehlte, begannen wir wie die Irren auf der kleinen Anlegestelle unsres Hotels hin- und herzurennen: »Gondola!« riefen wir. »Gondola!« brüllten wir. Nichts. Keine Gondel. Keine einzige. Die Gondeln waren ausgestorben. Es gab keine Gondeln mehr. Im allerletzten Augenblick wurden wir durch ein merkwürdiges plantschendes Geräusch auf einen alten Mann aufmerksam, der dicht unterhalb der Anlegestelle ein Schläfchen tat.

In einer Gondel.

Wir stürzten hinunter und weckten ihn: »Presto! Tempo! Zum Hauptbahnhof! Rasch, rasch!«

Im zerfurchten Gesicht des Piraten hoben sich langsam die schweren Lider, und in seinen Augen erschien mit deutlichen Blinksignalen die Ziffer 5000. Es war uns sogar, als hörten wir das Klingeln einer eingebauten Registrierkassa...

Wir versäumten den Zug.

Atemlos stürzten wir auf den Admiral zu, der in der Bahnhofsverwaltung einen der höheren Ränge bekleidet, und fragten ihn, wann der nächste Zug nach Genf ginge.

»Genf?« Der Admiral besann sich. »Genf... das wäre um 5.30!«

»Hahaha!« Ich lachte ihm ins Gesicht, um ihm so recht meine Verachtung für diesen unannehmbaren Vorschlag zu bezeigen. »Vier ist das äußerste, was ich nehme!«

»5.15!«

»4.20!«

»5! Nicht eine Minute früher!«

»4.30! Aber wirklich nur, weil Sie's sind!«

Nach einigem Hin und Her einigten wir uns auf 4.45. Ich zeigte mich dem Admiral erkenntlich, so daß mir nur noch 50 Lire für den Lokomotivführer blieben.

Wir verließen Italien mit leeren Taschen, aber tatsächlich nicht später als um 6.23 Uhr.